J.P. Marques: The Sounds of Silence

Cover
Title
The Sounds of Silence. Nineteenth-Century Portugal and the Abolition of the Slave Trade


Author(s)
Marques, Joao Pedro
Series
European Expansion & Global Interaction 4
Published
Oxford 2006: Berghahn Books
Extent
282 S.
Price
$ 75.00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Debora Gerstenberger, Graduiertenkolleg "Bruchzonen der Globalisierung", Zentrum für Höhere Studien, Universität Leipzig

Nicht-Ereignisse spielen in der Geschichtswissenschaft eine marginale Rolle, da Historiker traditionell thematisieren, was sich ereignet hat. João Pedro Marques nähert sich der Geschichte von ihrer – möglicherweise unterschätzten – Kehrseite und fokussiert das Nicht-Geschehene und Nicht-Gesagte. Thema seiner bereits 1999 auf Portugiesisch erschienenen Dissertationsschrift, die nun in einer gekürzten englischen Version vorliegt, ist das Fehlen eines „Willen zur Abolition“ im Portugal des 19. Jahrhundert.

Portugal nahm als Kolonialmacht Angolas (größter „Lieferant“) und Brasiliens (größter „Empfänger“) seit dem 16. Jahrhundert eine Schlüsselposition im transatlantischen Sklavenhandel ein. Trotz der seit Ende des 18. Jahrhunderts in Europa erstarkenden abolitionistischen Bewegungen und des wachsenden politischen und militärischen Drucks Großbritanniens gelang es Portugiesen, das „abscheuliche Geschäft“ („odious commerce“) bis in die 1860er-Jahre aufrecht zu erhalten. João Pedro Marques macht es sich zum Ziel, die Gründe für den auffällig spät einsetzenden, auffällig langwierigen Prozess der Abschaffung des Sklavenhandels in Portugal zu analysieren. Er schließt damit eine Lücke der internationalen Forschung, die leicht zu erklären ist: Abolitionismusforscher reden und schreiben meist über Großbritannien, wo vermeintlich alles, und schweigen über Portugal, wo vermeintlich nichts geschah.

Schweigen spielt, wie der sprechende Titel des Werkes verrät, auch im Analyseteil eine große Rolle. Dieses Schweigen gilt es zu interpretieren. Marques erteilt klassischen marxistischen und wirtschaftshistorischen Interpretationen der Sklaverei und des Sklavenhandels1 eine klare Absage (S. xi) und verzichtet konsequent auf Wirtschaftsdaten. Ihn interessieren politisch-diplomatische und öffentliche Diskussionen um die Abolition bzw. deren Fehlen und die jeweils dafür verantwortlichen „Ideologien“ (S. xiii). Entsprechend dienen Zeitungsartikel, diplomatische Schriften, parlamentarische Debatten, Pamphlete sowie juristische und fiktionale Texte als Quellen, wobei das Korpus nicht nur eine Fülle von portugiesischen, sondern auch britische Dokumente umfasst. Die explizit angestrebte, durchaus viel versprechende Analyse von sprachlichen Aushandlungsprozessen auf unterschiedlichen Ebenen geschieht leider ohne jegliche theoretisch-methodische Reflexion. So bleibt bis zum Schluss unklar, welche genaue Bedeutung und Wirkung jene Ideologien haben, denen Marques höchstes Erklärungspotential zuspricht. Auch wenn Marques sich selbst in der Tradition der Ideologiegeschichte sieht, würde man seine Arbeit nach Design und Umsetzung im deutschen Sprachraum vermutlich eher (als diskursgeschichtlichen Beitrag) unter einer Kulturgeschichte des Politischen verbuchen.

Der Hauptteil des Werkes ist in sechs Kapitel gegliedert, die überwiegend chronologisch die portugiesischen Debatten um bzw. das Schweigen über den Sklavenhandel vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zu dessen allmählichen Verebben in den 1860er-Jahren nachzeichnen. Im ersten Kapitel legt Marques dar, warum sich Portugal noch in „tiefer Unkenntnis“ befand, als im Ausland die Forderungen nach Abolition bereits laut wurden: Einerseits riegelte die Inquisition das Land gegen abolitionistischen Schriften ab, andererseits waren die Argumente des „kleineren Übels“ (Afrikaner werden durch die Verschiffung nach Amerika aus der Barbarei „befreit“) und der ökonomischen „Notwendigkeit“ außerordentlich wirkungsmächtig. Die Haltung der portugiesischen Intellektuellen war von Duldung („tolerationism“) geprägt, die Presse sparte den Sklavenhandel aus. Da es in Portugal keine gewichtige Stimmen gegen Sklaverei und Sklavenhandel gab, war es kaum nötig, die Rede dafür zu ergreifen. Nutznießer und Befürworter zogen es strategisch vor, das Thema nicht zur Sprache zu bringen. Für lange Zeit waren daher Schweigen und die Vermeidung des Topos („silence“, „omission“) in der politischen Kultur Portugals vorherrschend.

Kapitel 2 und 3 behandeln die Zeit vom ersten Angriff britischer Cruiser auf portugiesische Sklavenschiffe (1811) über die Unabhängigkeit Brasiliens (1822) bis zum Sieg der Liberalen im portugiesischen Bürgerkrieg (1834). Demnach brachte der wachsende Druck Großbritanniens die portugiesische Regierung zwar dazu, 1818 ein Gesetz zum Verbot des Sklavenhandels nördlich des Äquators zu erlassen. Doch südlich des Äquators wurde weiterhin legal gehandelt, und die Tatsache, dass das partielle Verbot des Sklavenhandels durch Briten erzwungen worden war, leistete einem nationalistischen Diskurs Vorschub, der aus Gründen der „nationalen Ehre“ ein totales Verbot ablehnte. Dieser Diskurs, der auch althergebrachten Argumente in sich vereinte, entwickelte sich zu einer „undurchdringliche Barriere“ für abolitionistischen Ideen und Praktiken (S. 61). Eine Abwehrhaltung gegen die Abolition ersetzte somit das portugiesische Schweigen, das allerdings teilweise, z.B. in der „diskursiven Auslassung“ ( S. 53) von Berichten über das Elend der Sklaven in der Presse, Bestand hatte.

Im vierten Kapitel, nach Marques eigenen Worten das „Herzstück“ der Studie, findet sich der Leser inmitten von zahlreichen Zitaten aus diplomatischen und parlamentarischen Debatten, Pamphleten und Zeitungsartikel wieder. Von vielen Belangen des Sklavenhandels ist hier die Rede, so dass von einer Sache bestimmt keine Rede mehr sein kann: vom Schweigen der Portugiesen. Bei der minutiösen Analyse der Aushandlungsprozesse um die Abolition in den 1830er- und 1840er-Jahren geht die ansonsten souveräne und angenehme Stimme des Autors bisweilen im polyphonen Stimmengewirr der Quellen unter. Das Fazit des Kapitels ist jedoch klar formuliert: Es war nicht (mehr) das Fehlen von abolitionistischen Ideen, welches abolitionistische Maßnahmen in Portugal vereitelte, sondern die traditionelle, tief in der portugiesischen Gesellschaft verankerte Duldung des Sklavenhandels. Diese zeichnete, so zeigt überzeugend das fünfte Kapitel, auch dafür verantwortlich, dass weder das offizielle Verbot von 1842 noch der stetig wachsende Druck Großbritanniens durchschlagenden Erfolg hatten. Gesetze und militärischer Druck sind kaum wirksam, wenn eine Gesellschaft deren Ziele nicht als richtig und rechtens anerkennt. Der Sklavenhandel konnte nicht vollständig unterbunden werden, solange die portugiesische Öffentlichkeit und portugiesische Politiker (die als relevante Akteure an vielen Stellen des Werkes in Szene gesetzt werden) ihn nicht als schändliches Gewerbe verurteilten (S. 179).

War die Argumentation bisher klar und stringent, so wird sie undurchsichtig, wenn im sechsten Kapitel die Chronologie der Ereignisse durchbrochen und plötzlich das Bild thematisiert wird, das Portugiesen in der Zeit zwischen 1820 bis 1865 von Afrika hatten. Marques wendet sich hier vehement gegen eine marxistische Geschichtsschreibung, die ein kapitalistisches Interesse der portugiesischen Eliten an den afrikanischen Territorien unterstellt und legt ausführlich deren Desinteresse dar. Auch wenn seine Position aufgrund der gelieferten Beweise vertretbar zu sein scheint, trägt das 55-seitige Kapitel wenig zum anfänglich formulierten Erkenntnisinteresse bei. Es drängt sich der Verdacht auf, dass es vor allem als Arena für eine Auseinandersetzung mit dem Historiker Alexandre Valentim dient, dessen Argumente Marques hier wiederholt zu entkräften versucht. In einer in den 1990er-Jahren geführten Aufsatz-Schlacht um die „richtige“ Interpretation der portugiesischen Abolition des Sklavenhandels2 waren anscheinend noch Rechnungen offen geblieben. Immerhin findet sich im letzten Kapitel eine Überzeugung des Autors, die in der Einleitung möglicherweise besser platziert gewesen wäre: Jegliches Handeln wird von dem Bild geleitet, welches Menschen sich von ihrer Realität machen (S. 195f.).

Eine zu kurze, nur fünfseitige Zusammenfassung beendet die Analyse, die insgesamt originell und hellsichtig ist und zudem von exzellenter Quellenkenntnis zeugt. Hier hätte João Pedro Marques leicht auf allgemeinere, über sein Thema hinausreichende Erkenntnisse seines Werkes aufmerksam machen können. Zum Beispiel auf jene, dass es kaum ausreicht, politische Entscheidungen bzw. Versäumnisse mit individuellen oder kollektiven (ökonomischen) Interessen zu erklären, die sich „dahinter“ verbergen mögen. Vielmehr ist es sinnvoll, den ideologisch bzw. diskursiv erzeugten Rahmen zu untersuchen, der eine bestimmte Realität konstituiert und (politisches) Handeln erst ermöglicht – oder eben verhindert.

Mit seiner Dissertation macht Marques überzeugend auf die fundamentale Bedeutung von Reden und Schweigen einer Gesellschaft für die Geschichte ihrer „globalen Interaktion“ (so lautet der Titel der Reihe) aufmerksam. Er leistet damit nicht nur einen wichtigen Beitrag für diejenigen, die sich für den atlantischen Sklavenhandel interessieren, sondern bereichert auch allgemein die transnational bzw. global ausgerichtete Geschichtsschreibung. Vorzuwerfen ist ihm höchstens, dass er dies im Schlusswort nicht nochmals herausstellt, sondern ausgerechnet hier mehr schweigt als redet.

Anmerkungen:
1 Der Klassiker ist: Williams, Eric Eustace, Capitalism and Slavery, Chapel Hill, NC / London 1994 [zuerst 1944]. Brasilien fokussieren z.B. Ianni, Octávio, Escravidão e capitalismo, São Paulo 1978 und die Dissertation des ehemaligen brasilianischen Präsidenten (1995-2002) und Soziologen Fernando Henrique Cardoso: Cardoso, Fernando Henrique, Capitalismo e escravidão no Brasil meridional, São Paulo 1962.
2 Marques, João Pedro, Uma revisão crítica das teorias sobre a abolição do tráfico de escravos português, in: Penélope 14 (1994); ders., Avaliar as provas. Resposta a Valentim Alexandre (debate sobre o abolicionismo), in: Penélope 15 (1995); ders., O equívoco abolicionista de Setembro. Segunda resposta a Valentim Alexandre, in: Penélope 17 (1997); Valentim, Alexandre, Projecto colonial e abolicionismo, in: Penélope 14 (1995); ders., Crimes and misunderstandings. Réplica a João Pedro Marques (debate sobre o abolicionismo), in: Penélope 15 (1995); ders., Sem sombra de pecado. Tríplice a João Pedro Marques, in: Penélope 17 (1997).

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Published on
04.05.2007
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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